Das Herrenberg-Urteil: Eine Einzelfallentscheidung, die nicht dazu berechtigt freiberufliche Musiklehrer*innen unter den Generalverdacht der Scheinselbständigkeit zu stellen

Ändert ein einziges Urteil des Bundessozialgerichts die Bewertung der Scheinselbständigkeit von Honorarkräften an Musikschulen in Deutschland? Seit jeher gibt es in der Sozialgerichtsbarkeit Auseinandersetzungen darüber, ob eine abhängige Beschäftigung oder eine echte Selbständigkeit vorliegt.

 Das Prinzip der Einzelfallbewertung durch das Bundessozialgericht

Rechtsanwalt Simon Reinhard hielt vor den Mitgliedern des ldfm Bayern e. V. am 28.04.2024 einen Vortrag mit der Überschrift „Scheinselbständigkeit – Aktuelle Urteile und deren Relevanz für Musikinstitute“. Zentrale Botschaft dieses Vortrags war die Auskunft, dass das BSG nach wie vor jeden Einzelfall nach den jeweiligen konkreten Umständen beurteilt. Daher kann die Rechtsprechung nur begrenzt verallgemeinert werden. Bereits kleinere Unterschiede im Sachverhalt können zu einer anderen Beurteilung führen. Es herrscht auch explizit keine Geltung von Urteilen für einen ganzen Berufsbereich, über den konkreten Sachverhalt hinaus.

Aus diesem Grund darf und kann das Herrenberg-Urteil nach Ansicht des ldfm Bayern e. V. und von ihm konsultierter Juristen nicht dazu führen, dass freiberufliche Musiklehrer*innen unter den pauschalen Generalverdacht der Scheinselbständigkeit gestellt werden. Untermauert wird dies ebenso dadurch, dass die Gesetzeslage sich zwischen den beiden BSG-Urteilen von 2018 (Gitarrenlehrer - Urteil vom 14.03.2018, B 12 R 3/17 R) und 2022 (Herrenberg - Urteil vom 28.06.2022 – B 12 R 3/20 R) nicht geändert hat. Zudem hat das BSG im Urteil von 2022 ausdrücklich weiter an dem Gitarrenlehrer-Urteil von 2018 festgehalten und dieses nicht revidiert, sondern im Gegenteil darauf verweisend Bezug genommen. Darüber hinaus stellte das BSG im Herrenberg-Urteil klar:

„Die sich an diesen Maßstäben orientierende Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit ist nicht abstrakt für bestimmte Berufs‑ und Tätigkeitsbilder vorzunehmen. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf ‑ je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis ‑ entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Abstrakte, einzelfallüberschreitende Aussagen im Hinblick auf bestimmte Berufs‑ oder Tätigkeitsbilder sind daher grundsätzlich nicht ‑ auch nicht im Sinne einer "Regel-Ausnahme‑Aussage" ‑ möglich.

Das Herrenberg-Urteil als Chance

Der ldfm Bayern e. V. sieht das Herrenberg-Urteil nun als Chance den durch das Urteil gewonnenen Informationsvorsprung zu nutzen, um die im Urteil genannten Kriterien durch unternehmerische Freiheit und Kreativität entsprechend in die Gestaltung der eigenen und zwar gelebten Verträge einzuarbeiten. Wir empfehlen unseren Mitgliedern den Inhalt des Urteils ernst zu nehmen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen ohne jedoch in eine Epidemie der Festanstellung durch eine politisch induzierte Panik zu verfallen.

Reaktionen aus der Kultur- und Bildungsbranche

Dass der ldfm Bayern e. V. diese Auffassung nicht alleine trägt, zeigen nachfolgende Aussagen mit Verweis auf die entsprechenden Quellenangaben:

Position des Deutschen Kulturrats

„Anderthalb Jahre nach dem BSG-Urteil besteht aktuell eine große Aufregung in der Kulturszene und teilweise wird verbreitet, niemand könne mehr im Bildungsbereich als Honorarkraft tätig sein. Dies ist mitnichten der Fall, ein genauerer Blick auf die Situation lohnt sich also. […] Beide, Selbstständigkeit und abhängige Beschäftigung, haben ihre Vorzüge und ihre Berechtigung.“ – Olaf Zimmermann, Deutscher Kulturrat

Quelle: 
https://www.kulturrat.de/presse/kulturpolitischer-wochenreport/18-kw-status-von-stelbststaendigen-im-kultursektor/

Position des Tonkünstlerverbands Bayern e. V.

„Die Problematik der Scheinselbstständigkeit wird dadurch wieder einmal sehr deutlich, dennoch muss immer die individuelle Situation, der Einzelfall eines Instituts/einer Bildungseinrichtung betrachtet werden. Gesehen werden sollte auch, dass es andere Urteile und andere Auslegungen zu diesem Thema gibt.“ – Andrea Fink, Tonkünstlerverband Bayern e. V. 

Quelle: 
https://www.dtkvbayern.de/aktuelles/scheinselbststaendigkeit-herrenberg-urteil-und-die-umsetzung/ 

Juristische Einordnung und weitere Rechtsprechung seit dem Herrenberg-Urteil 

Die Entscheidung des Landessozialgerichts (Urteil vom 27.4.2023 – L 1 BA 12/22)

Rechtsanwalt Tobias Lamß, Fachanwalt für Arbeitsrecht, sieht eine Überreaktion der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) und verweist dabei in einem Blogartikel auf ein neueres Urteil des Landessozialgerichts Hamburg aus dem Jahr 2023, in dem die Selbständigkeit einer Berufsfachschullehrerin vom Gericht bejaht wurde. Tobias Lamß schreibt: „So einfach, wie es sich die DRV Bund machen möchte, ist die Frage der Statusfeststellung im Bereich öffentlicher und privater Bildungseinrichtungen offensichtlich nicht. Ein Automatismus, bei Existenz eines Schulbetriebes eine abhängige Beschäftigung anzunehmen, folgt aus dem BSG-Urteil aus 2022 nicht, es gibt die vorherige Rechtsprechung ausdrücklich nicht auf.“

Quelle:
https://kliemt.blog/2024/03/04/hoffnung-fuer-honorarkraefte-im-bildungssektor/
und
https://www.landesrecht-hamburg.de/bsha/document/NJRE001541801

In einem weiteren Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2021 (Urteil vom 12.12.2023, B 12 R 12/21 R), wo es um die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung eines Kameramanns ging, stellte das Gericht fest:

Der von den Spitzenorganisationen der Sozialversicherung erstellte "Abgrenzungskatalog für die im Bereich Theater, Orchester, Rundfunk- und Fernsehanbieter, Film- und Fernsehproduktionen tätigen Personen" (Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 5.7.2005 zum Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit; Versicherungs-, Beitrags- und Melderecht) enthält lediglich Beurteilungshilfen für die Praxis. Die Sozialgerichte sind daran bei der Gesamtwürdigung im Einzelfall nicht gebunden.

In Analogie dazu kann konsequenterweise die „Versicherungsrechtliche Beurteilung von Lehrern und Dozenten“ der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung ebenso wenig verbindlich für die Beurteilung der Sozialgerichte sein. Auch diese ist also lediglich eine Beurteilungshilfe für die Praxis.

Quelle:
https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2023/2023_12_12_B_12_R_12_21_R.html
und
https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachliteratur_Kommentare_Gesetzestexte/summa_summarum/besprechungsergebnisse/beitragseinzug/2023/2023_05_04_download.html

Zusammenarbeit mit Honorarkräften auch weiterhin möglich

Der ldfm Bayern e. V. sieht unter der Voraussetzung der Einhaltung der vom BSG im Herrenurteil beachteten Kriterien die Zusammenarbeit mit Honorarkräften als rechtlich weiterhin gangbare Lösung. Da aber jeder Fall einzeln zu prüfen ist, können wir als Verband gleichzeitig auch keinen Blankoscheck für die Beauftragung von Honorarkräften vergeben. Es bleibt wie auch bisher eine gewisse Rechtsunsicherheit, die beim Versuch des Einhaltens aller Kriterien trotzdem ein Restrisiko birgt. 

Historische Inkonstanz bei der Bewertung von Selbständigkeit

Denn auch in der Vergangenheit sind unterschiedliche Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit bei ein und demselben Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Beispielsweise hat das Bundessozialgericht in dem Gitarrenlehrer-Urteil von 2018 anders geurteilt als seine Vorinstanzen, sprich Sozial- und Landessozialgericht. Auch damals konnte man also keinesfalls von rechtssicherer Beauftragung von Honorarkräften sprechen.

Wir sehen die Bundesregierung in der Verantwortung und Pflicht Rechtssicherheit durch die Anpassung der derzeit unklaren Gesetzeslage zu schaffen.

Die Künstlersozialversicherung: eine sozial- und kulturpolitische Errungenschaft der BRD

Mit dem System Künstlersozialkasse bekennt sich die BRD als Kunst- und Kulturnation, indem sie durch Zuschüsse zu den Sozialversicherungen höhere Stundensätze und damit bessere Nettoeinkommen der Kreativschaffenden ermöglicht.Gleichzeitig leisten die Musikschulen durch ihre Künstlersozialabgabe einen sozialen Beitrag zur Absicherung der selbständigen Lehrkräfte.

Sollte es zukünftig jemals dazu kommen, dass eine Beauftragung von Honorarkräften aus Gründen der Scheinselbständigkeit nicht mehr möglich wäre, hätte dies fatale finanzielle Folgen, da die Förderung der Sozialversicherungsbeiträge der Lehrer*innen durch die Künstlersozialkasse bei Festanstellungen entfällt. Freie Musikinstitute wären, ohne staatliche Förderungen der Personalkosten, dazu genötigt die deutlich höheren Kosten durch höhere Preise und billigere Löhne zu kompensieren. Instrumental- und Gesangsunterricht wäre nunmehr ein Luxus, den sich nur noch reiche Familien leisten könnten. Billig-Lohn-Szenarien anstatt sozialer Absicherung der Lehrkräfte wären außerdem die Folge.

ldfm Bayern e. V. fordert die Schaffung von Rechtssicherheit durch die Politik

Der ldfm Bayern e. V. setzt sich für einen freien Zugang zu wertvoller Musikausbildung ein. Die Freiheit der Berufsausübung und Berufsgestaltung freiberuflicher Lehrkräfte darf ebenso wie die unternehmerische und existentielle Flexibilität in der Kreativwirtschaft nicht eingeschränkt werden. Beides sind elementare Bausteine einer lebendigen Kunst- und Kulturszene in Deutschland.

Wir fordern die Politik auf für Rechtssicherheit im Hinblick auf das Thema der Scheinselbständigkeit zu sorgen und dabei die möglichen Konsequenzen im Blick zu behalten, damit hochqualitative, musikalische Ausbildung am Ende nicht einer kleinen wirtschaftlichen Elite vorbehalten sein wird.

Mit freundlichen Grüßen

Vorstand des Landesverbandes
der freien Musikinstitute Bayern e. V.

Beide Urteile des Bundessozialgerichts zum nachlesen:

https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Entscheidungen/2022/2022_06_28_B_12_R_03_20_R.pdf?__blob=publicationFile&v=2

www.bsg.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Entscheidungen/2018/2018_03_14_B_12_R_03_17_R.pdf?__blob=publicationFile&v=3

Wann: 28. April 2024 von 11 Uhr bis 14 Uhr

Wo: Musikinstitut downtown music institute gGmbH, Gögginger Straße 13, 86159 Augsburg

ES BRENNT...!

Zudem wird Herr Rechtsanwalt Simon Reinhard am Regiopsot ein Seminar zu folgendem Thema halten:

„Scheinselbständigkeit - Praktische Konsequenzen für Musikschulen aus der aktuellen Rechtsprechung".

Unter dem jeweiligen Link ist die Anmeldung direkt über unsere Homepage möglich:
Veranstaltungen - ldfm Bayern e. V. (https://www.ldfm-bayern.de)

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